Über den Umgang mit den Exzessen des Raubtierkapitalismus
Die Lage sei zwar ernst, man werde kurzfristig auch einiges tun (vor allem Milliarden von Steuergeldern für die spekulierenden Banken zur Verfügung stellen), die deutsche Regierung habe die Krise aber schon länger kommen sehen, Deutschland sei stark und «für den globalen Wettbewerb gerüstet», der bisherige Weg der deutschen Politik sei der richtige und man werde unbeirrt am bisherigen Kurs festhalten. Mit diesen wenigen Worten lassen sich die Kernaussagen der Regierungserklärung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel vor dem Deutschen Bundestag am 7. Oktober zusammenfassen. Eine ehrliche Bestandesaufnahme der Entwicklung und des Zustands unseres Finanz- und Wirtschaftssystems bot diese Regierungserklärung jedoch nicht, und schon gar nicht einen überzeugenden Ausblick, der über Allgemeinplätze hinausging.
Warum muss das betont werden? Bislang hat noch keine Massnahme der Staaten und Zentralbanken dazu geführt, dass die rasante Talfahrt der Börsenkurse ein Ende gefunden hat. Unübersehbar geworden ist, dass nicht nur sehr viele Aktienkurse tief fallen, sondern auch die für zivile Bedürfnisse tätige Realwirtschaft stark in Mitleidenschaft gezogen wird, und mit ihr werden es schliesslich auch wieder die Arbeitnehmer. Und es ist abzusehen, dass die bislang wirtschaftlich und politisch Mächtigen so lange wie möglich sagen werden, man werde am Kurs festhalten, allerdings müssten sich die Bürgerinnen und Bürger auf eine schlechter werdende wirtschaftliche Lage einstellen, sich also mit noch weniger sicheren Arbeitsplätzen und noch weniger Lohn abfinden, mit noch weniger Sozialleistungen, mit noch weniger staatlicher Daseinsfürsorge – so als wenn sie die Schuldigen wären. Nichts zu hören ist davon, dass diejenigen, die für die derzeit zu beobachtenden Exzesse die tatsächliche Hauptverantwortung tragen, sich offen dazu bekennen und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Im Gegenteil: Einige Fachleute sprechen sogar davon, dass derzeit ein unerbittlicher Bankenkrieg stattfindet, der keinerlei Rücksicht mehr auf das Gemeinwohl nimmt.
Und was ist politisch zu erwarten? Das wird ganz wesentlich von der politischen Kultur eines Landes abhängen. Die Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise und die damit zusammenhängenden Kriegsjahre in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben das gezeigt. Während viele europäische Staaten den Weg in ein autoritäres oder diktatorisches System wählten, hielt zum Beispiel die Schweiz trotz aller Not, nicht zuletzt auf Grund ihrer fest verankerten Tradition, am demokratischen Weg fest. Hier wurde, als das Land von aussen bedroht war, ein Weg beschritten, der vom Zusammenwirken der Menschen und von Zuversicht getragen war. Nicht zuletzt beeinflusst von den Grundlagen der im Land verbreiteten Genossenschaftsideen der Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung und dem Grundsatz, so dezentral wie möglich und nur so zentral wie nötig zu entscheiden und zu handeln.
Welchen Weg werden die Staaten Europas heute wählen? Schon die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass innerhalb der Europäischen Union auf reale, vermeintliche oder gar inszenierte Krisen mit immer weniger Demokratie und immer weniger Rechtsstaat reagiert wurde, mit immer bürgerfernerer und immer zentralisierterer Machtanballung. Und mit immer mehr Gewaltmitteln.
Es ist deshalb sehr zu befürchten, dass es Kräfte gibt, die auch die jetzigen Exzesse des Raubtierkapitalismus mit einer diktatorischen Politik paaren wollen.
Ein Indikator dafür ist, dass gerade jetzt die deutsche Regierung das Grundgesetz ändern und die Möglichkeiten eines Militäreinsatzes im Innern des Landes massiv erweitern will. Die Bundeswehr, so ist der Regierungspressekonferenz vom 6. Oktober zu entnehmen, soll nach den Plänen der Regierung und der Fraktionsspitzen der Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD bei «besonders schweren Unglücksfällen» den Polizeieinheiten der Bundesländer «Amtshilfe» leisten können, und zwar, und das ist neu, mit «militärischen Mitteln», also mit allen der Bundeswehr zur Verfügung stehenden Waffensystemen. Die Bundesregierung soll in solchen Fällen gegenüber den Bundesländern weisungsbefugt sein. Bei «Gefahr im Verzug» soll der Bundesverteidigungsminister oder der Bundesinnenminister im «Eilentscheid» alleine entscheiden können.
Die Regierungspressekonferenz machte deutlich, dass mit der geplanten Grundgesetzänderung das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts, dass selbst in Ausnahmesituationen unschuldiges Menschenleben auf keinen Fall geopfert werden darf, unterlaufen werden soll. Ansonsten äusserten sich die deutschen Regierungssprecher sehr vage zu den Regierungsplänen. Insbesondere wurde nicht definiert, was ein «besonders schwerer Unglücksfall» sein soll und ob damit nur Naturkatastrophen und, neu, auch sogenannte mögliche «Terrorgefahren» gemeint sind.
Viele befürchten schon seit längerem (vgl. das Interview mit Jürgen Rose in der «jungen Welt» vom 16. Mai 2007: «Man befürchtet, dass die Bevölkerung rebellisch wird»), dass sich der Einsatz der Bundeswehr im Innern gegen die eigene Bevölkerung richten wird. In einem Interview mit der Internet-Zeitung Telepolis (9. Oktober) verwies der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion Rainer Arnold zwar darauf, dass man bei einer «Zuspitzung sozialer und politischer Protestbewegungen», Arnold nannte dies «eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung», auf die Notstandsgesetzgebung vom Ende der sechziger Jahre zurückgreifen könne und dafür keine Grundgesetzänderung mehr benötigt würde. Aber die formalen Hürden der Notstandsgesetzgebung sind doch bislang höher als die mögliche Willkür eines einfachen Minister- bzw. Kabinettentscheids.
Schliesslich: Die geplante Grundgesetzänderung ist nur ein weiterer Mosaikstein innerhalb einer seit dem 11. September 2001 umfangreich angelegten Politik der Freiheitsbeschränkung, der Rechtsverweigerung und der Militarisierung des politischen Denkens.
So ist es sehr wahrscheinlich, dass die Exzesse des Raubtierkapitalismus nicht nur weitreichende Folgen für das soziale Leben, sondern auch für das politische Leben haben werden. Die Frage, wie wir mit den Exzessen des Raubtierkapitalismus umgehen wollen, ist deshalb nicht nur eine wirtschaftliche und eine soziale Frage, es ist auch eine zutiefst politische Frage. Es geht darum, ob die zunehmenden Verwerfungen dieses Kapitalismus demokratisch oder diktatorisch «gelöst» werden. Eine demokratische Lösung wird zu einer anderen Art des Wirtschaftens führen. Gerade deshalb ist die Gefahr, dass der Raubtierkapitalismus auch politisch diktatorisch wird, ausserordentlich gross. •
Von Karl Müller
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